Hausführung #1 10. November, 2023

Kunstbetrachtung

Elín Jakobsdóttirs „Ice Clouds I“ – eine vielschichtige Erkundung zwischen Imaginärem und Realität

Mit den HAUSFÜHRUNGEN veröffentlichen wir ein neues Format auf unserer Website. In dieser Reihe stellen wir Ihnen regelmäßig ein Kunstwerk vor, das entweder temporär in unseren Sonderausstellungen präsentiert wurde oder Teil unserer Kunstsammlung ist. Ziel dieses Formats ist es, unsere Begeisterung für Kunst zu teilen und Ihnen einen vertieften Einblick in einzelne Arbeiten zu geben.

Für die erste Ausgabe der HAUSFÜHRUNGEN fiel unsere Wahl auf ein Werk der Künstlerin Elín Jakobsdóttir, das im Rahmen der Herbstausstellung 2023 "Zwischen Zwei Orten – Artist Couple Elín Jakobsdóttir und Mark Sadler" zu sehen war. In dieser Ausstellung wurden Jakobsdóttir und Sadler erstmals gemeinsam als Künstlerpaar präsentiert.

Elin Jakobsdóttir, Eiswolken | / Ice Clouds I, 2023, Öl, Acryl auf Leinwand / Oil, acrylic on canvas, 220 x 180 cm

Das großformatige Gemälde "Ice Clouds I" aus dem Jahr 2023 wurde im ersten Raum der Ausstellung gemeinsam mit zwei Arbeiten ihres Ehemannes gezeigt. Dieses Werk zeichnete sich durch Jakobsdóttirs sensiblen Umgang mit Farbe und den spannungsvollen Kontrast zwischen Abstraktion und Figuration aus. Es bot einen eindrucksvollen Einblick in ihre konzeptionellen und visuellen Erkundungen. Die Künstlerin setzte figurative und abstrakte Formen ein, um Themen des Unbewussten und des Imaginären sowie die Beziehung zwischen dem Selbst und seinem Lebensumfeld zu erforschen. Auch die Verbindung zwischen der inneren und äußeren Stimme wurde in diesem Werk thematisiert.

Der Titel Ice Clouds, zu Deutsch Eiswolken, verweist auf ein meteorologisches Phänomen: Diese Wolken entstehen erst bei einer Außentemperatur von mindestens minus 35 Grad Celsius in einer Höhe von etwa 5000 bis 7000 Metern. Unter diesen Bedingungen kristallisieren Wassertröpfchen und bilden zarte, glänzende Wolken aus Eiskristallen. Im Unterschied zu Wasserwolken besitzen sie meist unscharfe Ränder. Durch die Brechung oder Spiegelung von Sonnen- oder Mondlicht entstehen faszinierende optische Erscheinungen. Jakobsdóttirs Eiswolken wirkten ebenso filigran: Sie entstanden durch fein abgestufte Farbschichten, deren neblige und verschleierte Qualität an Traumlandschaften erinnerte.

Aus diesen atmosphärischen Wolkenformationen hoben sich deutlich die Umrisslinien zweier Beine und der linken Hand einer Frau ab. Diese waren mit einem kräftigen roten Pinselstrich gezeichnet und ließen einen sich fallenden Körper erkennen. Der dargestellte Fall aus der eisigen Höhe schien tief zu sein. Ob dieser Fall als lebensbejahend oder lebensbeendend zu deuten war, blieb offen. Die spürbare Zweideutigkeit zwischen Verletzlichkeit und Ekstase wurde durch die Substanzlosigkeit der Körperfragmente noch intensiviert.

Diese Fragmente setzten sich zwar klar vom Hintergrund ab, waren gleichzeitig jedoch Teil der Wolken. Wie bei einem osmotischen Vorgang infiltrierten sich Individuum und Umgebung gegenseitig. Während Jakobsdóttir für die Darstellung der Wolken Acrylfarbe auf die grundierte Leinwand goss und so chemischen Prozessen Raum ließ, malte sie die Körperfragmente in roter Ölfarbe aus dem Gedächtnis. So verbanden sich Erinnerung und Zufall mit zeichnerischem Können und einem intuitiven Umgang mit Farbe. Diese Herangehensweise verlieh dem Werk seine besondere Ausdruckskraft und Tiefe.



Weiterführende Literatur / Selected Literature:

  • Die Traumdeutung, Sigmund Freud, 1899

  • The Interpretation of the Flesh: Freud and Femininity, Teresa Brennan, 1992

  • Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, Judith Butler, 1990

  • The Threshold of the Visible World, Kaja Silverman, 1996